Serotonin-Syndrom

Fallbeispiel:

Ihr werdet als RTW zur Familie Huber gerufen. Die Alarmierung lautet :“45J Männlich Wesensveränderung und AZ-Verschlechterung“. Frau Huber, ca. 80 Jahre, öffnet euch die Tür des Einfamilienhauses. Sie ist sehr besorgt um ihren Sohn, welcher nach Trennung von seiner Frau wieder in die Dachgeschosswohnung gezogen sei. Beim Hereinkommen erblickt ihr die steile, schmale Treppe und hofft innerlich, dass der Patient, welcher sich auch im Dachgeschoß befindet, gehfähig ist. In einem als Schlafzimmer umgebautem Wohnzimmer findet ihr Herrn Huber in Unterwäsche vor. Er ist schweißig und wirkt etwas fahrig und getrieben auf euch. Die ersten Differentialdiagnosen fallen euch ein (Hypoglykämie, Alkoholentzug). Herr Huber scheint etwas zu suchen, wobei nicht genau klar ist, was er sucht. Er ist etwas überrascht, als ihr mittlerweile zu fünft vor ihm steht. Ihr fragt nach Vorerkrankungen und der Patient verneint dies. Da euch sein Bewusstseinszustand nicht geheuer ist, blickt ihr zu Frau Huber, die dieses mit Nicken bestätigt. Ihr Sohn Stefan sei nie ernstlich krank gewesen, auch nie im Krankenhaus gewesen. Nein, Diabetes sei nicht bekannt. Als Jugendlicher habe er häufig Migräneanfälle gehabt. Alkohol vertrage er kaum. Ja, rauchen würde er aber schon. Ihr blickt euch um und könnt auch in der Wohnung kein auf Alkoholabusus hindeutendes Indiz entdecken. Herr Huber versucht sich eine Zigarette anzustecken und schafft es mit seinen zittrigen Fingern nicht, eine einzelne Zigarette aus der Packung zu nehmen. Er verteilt die Selbigen auf den Boden. Beim Betätigen des Feuerzeuges springt es ihm aus den Fingern. Ihr versucht einen Zugang zum Patienten zu bekommen, euch fallen vergrößerte Pupillen auf. Ihr fragt den Patienten, ob er irgendwelche Substanzen konsumiert hätte. Der Patient verneint. Seine Mutter bestätigt dieses erneut. Bei der Aufnahme der Vitalfunktionen zeigt sich eine Tachykardie mit 115/Min, SPO2  98%, RR vermutlich 160/75mmH, aber der Patient wackelte stark mit den Arm und auch das Pulsoxymeter fühlte sich ab und zu gestört durch das Zittern der Finger. Der Patient hat ein Problem, nur welches, dass muss man noch herausfinden. Ein Blutzuckertest ist sinnvoll und dabei kann man ja gleich mal schon einen Zugang legen. Blutzucker normal, das Pflaster des Zuganges löst sich bei der schweißigen Haut und muss mit einer Mullbinde verstärkt werden. Nun mit dem Patienten zu Fuß die steile, schmale Treppe herunter. Klappt erstaunlich gut. Auf der Trage ist dem Patienten der Pantoffel vom Fuß gerutscht als du ihn ihm den wieder überstülpen möchtest, zuckt der Fuß stark nach. Oha, ein Klonus. Neurologisch oder internistische Anmeldung, werdet ihr gefragt. Erstmal neurologisch.

In der Klinik nach Infusionsgabe, gelingt es Herrn Huber ein paar Angaben zu machen. Er nehme seit einiger Zeit Venlafaxin, welches sein Hausarzt verschrieben hätte, da er in ein tiefes Loch gefallen sei nach der Trennung von seiner Frau. Das wirke aber nicht so wie es sollte, also habe er sich noch Johanniskrautkapseln dazu gekauft. Nachdem er nun mehrere Nächte damit verbracht hätte TV zu schauen, habe er wieder Migräneanfälle bekommen und noch die alte Packung Sumatriptan gefunden und bei Übelkeit mit 20° MCP herunter gespült. Der Neurologe sucht nach der versteckten Kamera. Hat Herr Huber tatsächlich alle Medikamente mit serotonergen Wirkung eingenommen, welche ihm eingefallen sind?

Pathophysiologie:

Potentiell lebensbedrohlicher Überschuss an Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) im ZNS und/oder peripheren Nervensystem. Dabei kommt es zur Überstimulation der 5-HT-Rezeptoren. Dieses führt zu Hyperaktivität , Hyperreflexie und Angst. Zudem steigt die Körpertemperatur an und es kommt zu Koordinationsstörungen. Zum Überschuss an Serotonin kann es durch vermehrte Hemmung des Abbaus von Serotonin kommen (z.B. MAO-Hemmer), der Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin (SSRI), erhöhter Spiegel durch vermehrte Aufnahme von Serotonin und die erhöhte Freisetzung von Serotonin kommen. Die Diagnose ist nur klinisch zu stellen.

Symptome:

Unterschiedliche Ausprägung und Schweregrade der Symptome möglich. Meiste rasches auftreten der Symptome unter 12h. Die Symptome lassen sich auf drei gestörte Teilbereiche zurückführen:

  • autonome Instabilität:

Blutdruckanstiege und -abfälle, Pulsanstieg, Grippegefühl, Schwitzen, Übelkeit , Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Atemfrequenzanstieg, Mydriasis (Pupillenerweiterung), gesteigerte Darmgeräusche

  • kognitive Störungen:

Bewusstseinsstörungen, Akathisie (motorische Unruhe), Unruhe, Halluzinationen, Hypomanie, Koordinationsstörungen

  • Neuromuskuläre Symptome:

Tremor, Myoklonien/Muskelzuckungen, gesteigerte Reflexe, pathologische Reflexe, Krämpfe, Klonus (induziert = auslösbar durch Dorsalextension: Druck des Fußes Richtung Fußrücken oder ruckartiges Schieben der Kniescheibe fußwärts und halten des Zuges am Quadrizeps, spontaner Klonus ohne Zutun des Untersuchers)

Schwere Verlaufsformen mit tonisch-klonischen Krämpfen, Laktatazidose, Muskelrigidität, Delirium bis Koma, Temperatur >40°C, mit Multiorganversagen (Rhabdomyolyse, DIC, Nierenversagen) sind möglich.

Auslöser und Diagnostik:

  • Ausgiebige Medikamenten und Drogenanamnese (häufig Dosissteigerung oder Überdosierung und Kombination der Wirkstoffe)
  • Ausschluss anderer potentiell bedrohlicher Erkrankungen und Zustände
  • Es gibt keinen speziellen Bluttest. Erhöhte Kreatininkinase, erhöhter Myoglobinwert und unspezifische Leukozytose möglich

Hemmung der Serotoninwiederaufnahme:

Serotonin- und Serotonin-Noradrenalin-Reuptakehemmer (SSRI, SSNRI): z.B. Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Sertralin (SSRI), Venlafaxin, Duloxetin (SSNRI), Johanniskraut

TCA: Imipramin, Clomipramin, Amitriptylin, Doxepin

Opiate z.B. Tramadol, Fentanyl, 5-HT3-Rezeptorantagonisten z.B. Ondansetron, Granisetron

Zudem Valproinsäure, Carbamazepin

Hemmung des Serotoninabbaus: MAO-Hemmer (z.B. Moclobenid, Tranylcypromin), Methylenblau

Erhöhte Freisetzung von Serotonin: Amphetamine, MDMA, Cocain, Mirtazapin, Methadon

5-HT-Rezeptoragonisten: Buspiron, Sumatriptan, LSD, Lithium, Urapidil

Zudem Erythromycin, Ciprofloxacin, Fluconazol. Ritonavir (CYP-Inhibitoren Verhindern Abbau SSRI, SNRI), Linezolid

Nahrungsergänzungsmittel mit 5-HTP

Liste mit Übersicht der potentielle serotonergen Medikamente

Hunterkriterien:

  • ≥1 Symptom in Gegenwart mit einer serotonergen Substanz
  • Spontaner Klonus
  • Induzierbarer Klonus und Agitiertheit oder Schwitzen
  • Oculoklonus und Agitiertheit oder Schwitzen
  • Tremor und Hyperreflexie
  • Hypertonus und Temperatur > 38°C und Oculoklonus oder induzierbarer Klonus

Differentialdiagnosen: Malignes neuroleptisches Syndrom (Dopamin, langsamerer Verlauf, Rigor, extrapyramidale Störungen, Bewegungsarmut, vegetative Symptomatik, normale Pupillen), Meningitis, Meningoenzephalitis, psychiatrische Erkrankungen, anticholinerges Syndrom (heiße trockene Haut, Fieber, Harnverhalt)

Therapie:

  • Symptomatische Therapie (Intensivmedizinische Überwachung, Flüssigkeitsausgleich)
  • Auslösende Substanzen erkennen und absetzen
  • Möglicherweise Sedierung (Benzodiazepine)
  • Bei Rhabdomyolyse und schweren Krämpfen ggf. Narkose und Relaxierung (Cave: kein Succinylcholin bei starker Kaliumfreisetzung nutzen, Fentanyl ist Serotoninsyndromauslöser)
  • Wenn nötig: Temperatursenkung wobei Antipyretika nicht helfen, da kein eigentliches Fieber, sondern durch vermehrte Muskeltätigkeit ausgelöst Hyperthermie besteht.
  • Keine generelle Empfehlung für Serotoninantagonisten (Cyproheptadin Peritol ©), positive Fallberichte vorhanden.

Referenzen:

Rote Hand Brief: Serotoninsyndrom durch Fentanyl

Serotonintoxizität –Serotoninsyndrom G. Skopp Notfall Rettungsmed 2020 · 23:61–71 Online publiziert: 30. Januar 2020 © Springer Medizin Verlag GmbH

E.J.C. Dunkley, G.K. Isbister, D. Sibbritt, A.H. Dawson, I.M. Whyte, The Hunter Serotonin Toxicity Criteria: simple and accurate diagnostic decision rules for serotonin toxicity, QJM: An International Journal of Medicine, Volume 96, Issue 9, September 2003, Pages 635–642, https://doi.org/10.1093/qjmed/hcg109

Aliem – Academic life in emergency medicine  Serotonin syndrome

Podcast:

Heavy lies the helmet Serotonin Syndrome – When Medication Go Wrong

FOAMcast – An Emergency Podcast Episode 28 – Neuroleptic Malignant & Serotonin Syndrome

The Internet Book of Critical Care (IBCC) Episode 40 – Serotonin Syndrome

Medscape Drug interaction checker

Teilen und liken:

2 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert