Sichelzellkrise und akutes Thoraxsyndrom (ATS)

Fallbeispiel : Der 27-jährige Cengiz Ünal wird von zwei seiner Freunde gestützt in die Notaufnahme gebracht. Er stöhnt vor Schmerzen. Als er zur Triage gebracht wird, wird er von der Pflegekraft gefragt, wo seine Schmerzen seien. Er antwortet im gebrochenen deutsch, dass seine Beine, sein Rücken und sein Bauch weh täten. Er brauche jetzt Morphin. Die Pflegekraft winkt ab, jetzt wird erstmal Puls, Blutdruck und Sauerstoff gemessen. Sie fragt, ob er einen Unfall gehabt hätte. Cengiz sagt, dass er Sport gemacht hätte und fällt nahezu in sich zusammen vor Schmerzen. Herr Ünal wird triagiert und nicht als besonders gefährdet angesehen. Schmerzen nach dem Sport? Dafür sind die Unfallchirurgen zuständig, wird beschlossen. Der Assistenzarzt  aus dem 2. Weiterbildungsjahr untersucht den Patienten und kann die Symptome nicht wirklich zuordnen. Der Patient bittet erneut um Morphin. Mit Hilfe einer Übersetzungsapp, versucht der Assistenzarzt eine Anamnese aufzunehmen. Dann erst kann er Sichelzellanämie zu den Vorerkrankungen nehmen. Er entscheidet, wenn er nichts röntgen kann, so wäre er auch nicht für den Patienten zuständig und der Internist müsse sich um Herrn Ünal kümmern. Der ist aber bei einem STEMI-Patienten und Herr Ünal muss erneut warten. Blut wird abgenommen, da ja jeder internistische Patient eine Laboruntersuchung braucht und zumindest 1g Paracetamol wird dem Patienten gegönnt.

Sichelzellkrankheit:

Verursacht durch Hämoglobin S (HbS) > 50 %, durch eine Veränderung der Aminosäuren der Beta-Globulinkette kommt es zur verminderten Wasserlöslichkeit, insbesondere unter hypoxischen Bedingungen. Dabei kommt es zur charakteristischen Formveränderung der Erythrozyten. Die roten Blutkörperchen haben eine verkürzte Überlebenszeit, führen zu Endothelschäden und rezidivierenden Gefäßverschlüssen mit akuter und chronischer Organinsuffizienz, sowie zur hämolytischen Anämie

Vorkommen: häufig tropische Anteile Afrika, mittlerer Osten, Indien, Ost-Türkei, etwas weniger in Griechenland und Süditalien

Symptome: Erst ab dem 3./4. Lebensmonat, da das fetale Hämoglobin (HbF) ersetzt wird. Variable Ausprägung von nahezu asymptomatisch im Erwachsenenalter bis schwerstes Multiorganversagen in der Kindheit. Hand-Fußsyndrom (schmerzhafte Gefäßverschlüsse mit Schwellung der Fuß und Zehenknochen), Milzsequestration (rasche Milzvergrößerung, plötzliche Anämie und starke Retikulozytose), funktionelle Asplenie (schwere Infektion v.a. durch bekapselte Erreger möglich z.B. Pneumokokken), aplastische Krisen (durch Parvo-Virus B19).

Schwerwiegende Komplikationen: ZNS-Infarkte, paralytischer Ileus bei Mesenterialischämie, Priapismus, chronisches Nierenversagen, akutes Thoraxsyndrom, chronisch pulmonaler Hypertonus, proliferative Retinopathie, orbitales Kompressionssyndrom)

Diagnostik: Durch Hämoglobinanalyse HPLC (high pressure liquid chromatography), zusätzlich Sequenzierung der beta-Globulin-Gene um Unterformen zu definieren, Neugeborenenscreening in Risikogebieten, Pränataldiagnostik durch Chorionzottenbiopsie u. Ä.

Generelle Therapie:

Prophylaxe: Verhinderung Dehydratation (Flüssigkeitszufuhr, Alkohol meiden), Unterkühlung (Warme Kleidung), Hypoxie (Vorsicht bei großen Höhen und Langstreckenflügen, Nikotinkarenz, OSAS behandeln), Azidose (keine anaerobe Belastung, bei Gastroenteritis frühzeitige Arztvorstellung) und Infektionen (Hygienemaßnahmen, Impfungen: Hämophilus Influenza B, 13-valente Pneumokokken, Meningokokken, Penicillinprophylaxe im Kleinkindalter), ggf. Folsäuresubstitution oder Ernährungsberatung

Ausführliche Planungen der Voruntersuchungen nach Leitlinie (Augenarzt, Kardiologe/Angiologe, Laboruntersuchungen)

Transfusion bei Transfusionstriggern (CAVE Hyperviskositätssyndrom bei Freigabe von gepoolten Blut in der Milz möglich bei Milzsequestration), Hydroxycarbamid (induziert die Bildung von HbF)

Bei Fieber -> ggf. frühzeitige antibiotische Therapie (Cefotaxim i.v. 100mg/kg/d in 3 Einzeldosen), wenn Sepsis nicht sicher ausgeschlossen werden kann. CAVE Ceftriaxon könnte u.U. zur Antikörper-vermittelten Hämolyse führen.

Sichelzellkrise:

  • akute Schmerzkrise 2h an Extremitäten, Rücken, Bauch, Brustkorb, Kopf ohne andere Ursache als Sichelzellkrankheit
  • ausgelöst durch vaso-occlusive Ereignisse, daher nozizeptiver Ischämieschmerz, vor allem das Knochenmark betroffen
  • häufigste Komplikation, Schmerzangabe niemals bagatellisieren, kann zu chronischem Schmerzsyndrom übergehen.
  • zügige i.v. Morphingabe (ggf. Perfusor längerfristig), supportiv Laxans, bei Niereninsuffizienz Hydromorphon vorziehen, Patient engmaschig überwachen, evtl. Monitorbett
  • auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr achten ggf. intravenös Vollelektrolytlösung substituieren
  • Langfristige Therapien diskutieren ggf. Hydroxycarbamid, Stammzelltransplantation
  • CAVE: kann in akutes Thoraxsyndrom übergehen

Fortsetzung Fallbeispiel: Endlich wendet sich das Blatt. Der internistische Dienstarzt kümmert sich um Herrn Ünal. Durch das PJ in der Hämato-Onkologie hat er schon einmal Kontakt mit Patienten mit Sichelzellkrisen gehabt. Herr Ünal wird mit i.v. Zugang versorgt und bekommt Morphin über Perfusor und wird rehydriert. Der Hb liegt bei 8g/dl. Die Schmerzen sind zwar besser aber der Patient bekommt etwas schlecht Luft und muss husten. Da auch Fieber besteht, wird ein Röntgenbild des Thorax angefertigt. Es zeigen sich einseitige Infiltrate. Da dem Internisten die Situation nicht ganz geheuer ist, ruft er im benachbarten Uniklinikum an und bittet um Rat. Dort wird die prekäre Situation erkannt und der Patient zur Austauschtransfusion auf die Intensivstation aufgenommen.

Akutes Thoraxsyndrom:

  • akute meist fulminant verlaufende pulmonale Symptomatik, oft im zeitlichem Zusammenhang mit einer Schmerzkrise
  • Mortalität ca. 1 % bei Kindern, ungefähr 10 % bei Erwachsenen
  • Klinisch und radiologisch nicht von einer Pneumonie zu unterscheiden
  • Die wichtigste Therapie ist die Transfusion (nicht über 10,5g/dl Hb-Wert), ggf. Austauschtransfusion
  • zweithäufigste Komplikation nach der Schmerzkrise
  • Symptome neu aufgetretenes pulmonales Infiltrat mit mind. eines weiten Symptomes: Fieber ≥ 38,5°C, SPO2-Abfall um 2 %, PaO2 < 60mmHg, Tachypnoe, intercostale Einziehungen, thorakale Schmerzen, Husten, Giemen, Rasselgeräusche
  • Daher ist auch jede Pneumonie ist bei Sichelzellpatienten ein akutes Thoraxsyndrom
  • Ätiologie: multifaktoriell (Gefäßverschlüsse durch Fettemboli, Infektion, Hypoxie führt zur vermehrten Sichelzellbildung, Teufelskreis)
  • Rasche Intensivpflichtigkeit möglich (ARDS)
  • Therapie: Sauerstoffgabe, Infusionstherapie, Einfachtransfusion (langsam progredientes ATS) bis Austauschtransfusion (bei fulminantem ATS), Antibiose

Fazit:

Sichelzellanämie ist eine ernstzunehmende Systemerkrankung, die besonderer Fürsorge bedarf. Schmerzkrisen und das potentiell tödliche akute Throraxsyndrom frühzeitig erkennen und behandeln. Da die Sichelzellerkrankung in unseren Breitengraden seltener ist, sind viele Behandler damit nicht vertraut. Dem Patienten droht durch diese Unkenntnis Stigmatisierung.

Autoren

Ines Severloh

Dr. Alexander Hanke

Dr. Michael Töpperwien

Literatur:

Herold G. Innere Medizin: eine vorlesungsorientierte Darstellung ; unter Berücksichtigung des Gegenstandskataloges für die Ärztliche Prüfung ; mit ICD 10-Schlüssel im Text und Stichwortverzeichnis. Köln: Herold; 2019

AWMF Leitlinie S2k 025/016 Sichelzellkrankheit, 12/2019 abgelaufen, derzeit in Überarbeitung

https://register.awmf.org/assets/guidelines/025-016l_S2k_Sichelzellkrankheit_2020-12.pdf

Was ist neu in der Diagnostik und Therapie der Hämoglobinopathien?
Cario H, Lobitz S; Dtsch Med Wochenschr. 2019 Jun;144(11):719-723. doi: 10.1055/a-0601-4921. Epub 2019 Jun 4.

https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/pdf/10.1055/a-0601-4921.pdf

Bildnachweis:

Lisa Sprigade www.fabelhafte-fotowelt.com

Podcasts:

1) CorConsult Rx – brief overview of sickle cell disease (anemia)

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