Das Boerhaave-Syndrom – Innere Zerreißprobe

Denkt man an Thoraxschmerzen, denkt man meist an den Myokardinfarkt, die Lungenarterienembolie, den Spannungspneumothorax und die Aortendissektion.
Aber halt! Es hieß doch Big Five des Thoraxschmerzes. Da fehlt doch noch einer …
Fallbeispiel:
Dienstagabend, 22:17 Uhr – Zentrale Notaufnahme eines mittelgroßen Klinikums.
Bernd, 54 Jahre alt, wird vom Rettungsdienst in die Notaufnahme gebracht. Der Patient ist sichtbar unruhig und klagt über starke retrosternale Schmerzen. Der Notfallsanitäter ergänzt:
„Er hat sich mehrfach heftig übergeben, nachdem er eine verdächtige Fischkonserve geöffnet und gegessen hatte. Und nein, es war nicht Surströmming – dieser Gammelfisch aus Schweden.“
Auf den ersten Blick wirkt Bernd blass, leicht tachypnoisch. Seine Vitalwerte: Herzfrequenz 112/min, Blutdruck 145/90 mmHg, SpO₂ 95 % an Raumluft, Temperatur 37,5 °C.
Beim Entkleiden fällt dem Pflegepersonal ein subkutanes Knistern im Bereich des Halsansatzes auf – Hautemphysem. Das EKG zeigt keine ST-Streckenveränderungen, doch die retrosternalen Schmerzen persistieren. Eine Troponinbestimmung wird veranlasst, parallel erfolgt eine Notfallsonografie – kein Perikarderguss, kein Hinweis auf freie Flüssigkeit im Abdomen.
Der diensthabende Arzt denkt zunächst an ein akutes Koronarsyndrom – doch der Zusammenhang mit dem Erbrechen und das Hautemphysem machen ihn stutzig. Ein CT-Thorax mit Kontrastmittel bringt Klarheit: eine längs verlaufende Perforation der distalen Speiseröhre, mediastinale Luft, beginnende Mediastinitis.
Der Patient erhält umgehend ein Breitbandantibiotikum, zudem werden die Gastroenterologie und Thoraxchirurgie sofort alarmiert. Bernd wird auf die Intensivstation verlegt.
Man entscheidet sich zunächst für die Einlage eines Ösophagus-Stents. Trotz des komplikationslosen endoskopischen Eingriffs verschlechtert sich seine respiratorische Situation zunehmend – im Rahmen eines septischen Schocks muss er schließlich intubiert werden.

Es bildet sich ein wachsender Pleuraerguss, der sich im Verlauf zum Empyem entwickelt. Mehrere Drainagen werden notwendig, und ein wochenlanger stationärer Aufenthalt folgt.
Aber er überlebt.
Klingt einfach zu erkennen, oder?
Nur schnell die Boerhaave-Symptomtrias (auch Mackler’s Triad, benannt nach dem amerikanischen Chirurgen Saul Allen Mackler, 1913–2007) merken – also:
Erbrechen, Thoraxschmerzen und subkutanes Emphysem – zack, Diagnose steht.
Tja. Der Teufel ist ein Eichhörnchen – und die Natur hält sich ungern an Lehrbuchwissen.
Die klassische Trias ist nämlich nur in etwa 50 % der Fälle vorhanden. Erbrechen tritt sogar nur bei weniger als der Hälfte der Betroffenen auf.
Leitlinien? Leider Fehlanzeige – bisher sind weltweit lediglich rund 900 Fälle beschrieben.

Allgemeines:
Das Boerhaave-Syndrom (ausgesprochen: Buhr-haave) wurde bereits 1724 von Herman Boerhaave beschrieben – einem niederländischen Arzt, Botaniker und Chemiker.
Einer Legende zufolge war Boerhaave selbst Teilnehmer exzessiver Essgelage. Bei einer dieser Gelegenheiten verstarb sein Freund, Admiral Jan Gerrit van Wassenaar-Veur, woraufhin Boerhaave ihn obduzierte und die Todesursache erstmals beschrieb – das Boerhaave-Syndrom.
Aber das möchte euch Hermann Boerhaave selbst erzählen:
Typischerweise betrifft die Ruptur alle Wandschichten des Ösophagus und tritt meist im distalen Drittel posterolateral links auf. Seltener ist die Ruptur im mittleren Drittel in Höhe der V. azygos rechts lateral lokalisiert.
Im Gegensatz dazu sind beim Mallory-Weiss-Syndrom lediglich Mukosa und Submukosa betroffen. Dennoch kann es auch hier zu erheblichen und potenziell lebensbedrohlichen Blutungen kommen – Das Mallory-Weiss-Syndrom sollte also auch nicht unterschätzt werden!
Kommt es zur Ruptur des Ösophagus, können Nahrungsbestandteile in den Thorax oder die freie Bauchhöhle gelangen und dort entzündliche Prozesse auslösen.
Unbehandelt liegt die Mortalität bei etwa 90 %, weshalb die rasche Diagnosestellung von entscheidender Bedeutung ist.
Risikofaktoren:
- Männliches Geschlecht
- Alkoholabusus
- Vorbestehende Erkrankungen oder Verletzungen des Ösophagus
- Zustand nach endoskopischen Eingriffen im oberen Gastrointestinaltrakt
Auslöser:
Alles, was zu einem plötzlichen Druckanstieg im Ösophagus führt, üblicherweise bei geschlossener Glottis, kann eine Ruptur verursachen. Dazu zählen unter anderem:
- Würgen, Erbrechen, (im Rahmen der Koloskopie-Vorbereitung)
- Starkes Husten, heftiges Lachen
- Geburt, extreme körperliche Anstrengung
- Krampfanfälle, schweres Heben
Das Syndrom ist selten, aber auch bei Kindern und Säuglingen möglich.
Symptome:
- Retrosternale Schmerzen bis hin zu Vernichtungsschmerzen
(je nach Lage der Ruptur ggf. auch Ausstrahlung in den Oberbauch) - Dysphagie, Hämatemesis
- Dyspnoe
- Fieber in 40–50 % der Fälle
- Im Verlauf: Schockzeichen (Tachykardie, Hypotonie)
- Hautemphysem am Hals und Jugulum
- Hamman’s Crunch: Herzschlagsynchrones Knistern bei auskultierbarem Mediastinalemphysem (nach dem amerikanischen Internisten Louis Virgil Hamman 1877-1946)
- Mediastinalemphysem
Diagnostik
- E-FAST/Sonographie
- Hinweise auf Pleuraerguss oder Pneumothorax
- Weichteilemphysem kann die Herzsonografie erschweren
- Konventionelles Thoraxröntgen
- In ca. 90 % der Fälle auffällig
- Nachweis von Mediastinalverbreiterung, Pneumothorax oder subkutanem Emphysem
- CT-Thorax mit Kontrastmittel
- Goldstandard zur Darstellung der Perforation und mediastinaler Luft
- Röntgen-Breischluck
- Darstellung von Kontrastmittelaustritt bei Perforation
- Endoskopie
- Vorsicht: kann bestehende Rupturen vergrößern – mit Bedacht einsetzen
Naclerio-V-Zeichen – erkennbar im konventionellen Thoraxrötgenbild
(Benannt nach Emil A. Naclerio, 1915–1985, amerikanischer Thoraxchirurg, der auch Martin Luther King Jr 1958 nach einer Messerattacke das Leben rettete.):
- V-förmige Luftansammlung im Thorax
- Ein „Schenkel“ des V: linke laterale Begrenzung des Mediastinums
- Zweiter „Schenkel“: Luftansammlung zwischen Pleura parietalis und linkem Zwerchfell
- https://www.youtube.com/watch?v=CsB2jvamlNU
Komplikationen:
- Mediastinitis
- Pleuraempyem
- Spannungspneumothorax
- Septischer Schock
- Tod
Behandlung:
Basismaßnahmen:
- Sicherung der Vitalfunktionen
- Analgesie
- Gabe eines Antiemetikums
- Nüchtern lassen
- Protonenpumpeninhibitor i. v. (z. B. Pantozol)
Weitere Behandlung:
- Interdisziplinäre Therapieentscheidung gemeinsam mit Viszeralchirurgie, Thoraxchirurgie und Gastroenterologie
- Intensivmedizinische Überwachung aufgrund der hohen Mortalität
- Breitbandantibiose, z. B.
- Piperacillin/Tazobactam
- Meropenem + Vancomycin
- Drainagen bei Ergüssen (z. B. Thoraxdrainage bei Pleuraempyem)
- Operative Maßnahmen, je nach Ausmaß:
- Übernähung der Ruptur
- Resektion mit ein- oder zweizeitiger Rekonstruktion
- Endoskopische Versorgung:
- Einlage eines Ösophagus-Stents
- Ggf. endoskopische Vakuumtherapie (EndoVAC)
CAVE:
- NIV-Beatmung ist kontraindiziert, da sie die Ruptur verschlechtern kann
- Magensonde besser unter endoskopischer Sicht oder ggf. intraoperativ platzieren
Punchlines:

- Hohe Mortalität – das Boerhaave-Syndrom darf keinesfalls übersehen werden!
- Die klassische Mackler-Trias (Thoraxschmerz nach Erbrechen + Hautemphysem) ist nur in < 50 % der Fälle vorhanden
- Individuelle und interdisziplinäre Therapieentscheidung ist essenziell
Quellen:
Bücher:
Facharztprüfung Innere Medizin. Latus J, Alscher M, Hrsg. 6. vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2025. doi:10.1055/b000000932
Duale Reihe Chirurgie. Henne-Bruns D, Hrsg. 4., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2012. doi:10.1055/b-002-89583
Podcast:
https://emergencymedicinecases.com/em-quick-hits-oct-2022
Medbullets Step 2 & 3 Podcast – Boerhaave-syndrome
https://step2.medbullets.com/gastrointestinal/120145/boerhaave-syndrome
Medicalization By Jessica Sedhom & Wafik Sedhom The Great Retch: The Discovery of Boerhaave Syndrome
Paper:
Adams BD, Sebastian BM, Carter J. Honoring the Admiral: Boerhaave-van Wassenaer’s syndrome. Dis Esophagus. 2006;19(3):146-51. doi: 10.1111/j.1442-2050.2006.00556.x. PMID: 16722990.
Goenka MK, Goenka U. Endotherapy of leaks and fistula. World J Gastrointest Endosc. 2015 Jun 25;7(7):702-13. doi: 10.4253/wjge.v7.i7.702. PMID: 26140097; PMCID: PMC4482829.
Keane M, Gowripalann T, Brodbeck A, Bothma P. A lesson in clinical findings, diagnosis, reassessment and outcome: Boerhaave’s syndrome. BMJ Case Rep. 2012 Jun 21;2012:bcr2012006485. doi: 10.1136/bcr-2012-006485. PMID: 22729346; PMCID: PMC4544566.
Emmanouilidis N, Jäger MD, Winkler M, Klempnauer J. Boerhaave syndrome as a complication of colonoscopy preparation: a case report. J Med Case Rep. 2011 Nov 5;5:544. doi: 10.1186/1752-1947-5-544. PMID: 22054124; PMCID: PMC3220652.
Ahadi, Mitra & Masoudifar, Negin. (2017). Boerhaave Syndrome. Journal of Cardio-Thoracic Medicine. 5. 10.22038/jctm.2017.26492.1143.
Sonstiges:
Radiopaedia:
Wikipedia
Geni.com Jan van Wassenaar-Veur
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Das Thema ist super wichtig. Im letzten Jahr haben wir selbst einen Fall dazu publiziert. Problem ist immer das Erkennen.
Brenner, B., Hofer, P. Wieder ein „Bagatellfall“? – Unwohlsein und einmaliges Erbrechen. Notfall Rettungsmed (2024). https://doi.org/10.1007/s10049-024-01412-4