Lazarus-Phänomen

Wisst ihr wer Lazarus war? Allen unter Euch, die nicht so bibelfest sind, sei gesagt, dass der Lazarus den wir suchen Lazarus von Bethanien war, über den im Johannes-Evangelium berichtet wird. Der Bibel nach war Lazarus ein guter Freund von Jesus. In Abwesenheit von Jesus verstirbt Lazarus und als Jesus wieder nach Bethanien kommt, ist Lazarus bereits seit 4 Tagen beigesetzt. Jesus lässt den Stein vom Grab weg wälzen. Auf den Zuruf Jesu „Lazarus, komm heraus!“ verlässt dieser – noch mit den Grabtüchern umwickelt – lebendig das Grab (Joh 11,41–44 EU; Wikipedia – Lazarus).

Nach dieser Auferweckung von den Toten wird in der Medizin das Lazarus-Phänomen benannt. Dieses beschreibt einen ROSC bei einem Kreislaufstillstand nach Beendigung der Reanimationsmaßnahmen. Die Erstbeschreibung dieses Phänomens stammt übrigens nicht aus biblischen Zeiten sondern aus dem Jahr 1982 (Linko K et al.). Im Juni 2020 ist im Scandinavian Journal of Trauma and Resuscitation ein Review über dieses Phänomen erschienen, auf dem dieser Beitrag basiert (Gordon L et al.).

Für alle unter Euch die es nicht so mit der Bibel haben – es wird auch Autoresuscitation genannt.

Da dieses Phänomen zu erheblichem Stress für Angehörige und medizinisches Fachpersonal führen kann, ist es aus unserer Sicht wichtig, sich mit den bekannten Umständen dieser Fälle auseinander zu setzen, möglichst bevor man mit einem solchen Fall konfrontiert wird.

Es gibt übrigens auch noch den Lazarus-Effekt in der Biologie. In diesem Fall ist die Wiederentdeckung einer ausgestorben geglaubten Tierart gemeint (Wikipedia – Lazarus Effekt).

Auferweckung des Lazarus am Pacher-Altar der katholischen Pfarr- und Wallfahrtskirche St. Wolfgang im Salzkammergut, Oberösterreich. Michael Pacher, 1471–79, aufgestellt 1481. Quelle: auf Bild klicken

Datenlage

Prävalenz und Limitierungen

Die genaue Prävalenz des Lazarus-Phänomens ist völlig unklar. Je nach Studie berichten allerdings 37% – 50% der Intensivmediziner bereits eine Autoresuscitation erlebt zu haben (Dhanani S et al.; Gerard D et al.; Wind J et al.). Es ist davon auszugehen, dass die Fälle eher zu selten berichtet werden, da die betroffenen ACLS-Provider von einer eigenen Fehleinschätzung ausgehen oder sogar juristische Konsequenzen befürchten. Außerdem muss bedacht werden, dass Fälle von Autoresuscitation mit schlechtem Outcome eher nicht oder zumindest seltener berichtet werden. Gordon L et al. zeigen in Ihrer Literatur-Recherche, dass eine Autoresuscitation sowohl prä- als auch innerklinisch auftritt (63 Patienten, davon 34 präklinisch und 29 innerklinisch).

EKG-Rhythmus und ROSC

Das Lazarus-Phänomen scheint deutlich häufiger bei langsamen Periarrest-Rhythmen als bei schnellen aufzutreten.

  • Asystolie = 70%
  • PEA = 22%
  • Kammerflimmern = 7%

Die mediane Reanimationszeit lag bei 30 Minuten, wobei in 22% der Fälle weniger als 20 Minuten reanimiert wurde. Das ist die Zeitspanne, die von der ERC in den gültigen Leitlinien als „untere Grenze“ angegeben wird.

ROSC trat bei der Hälfte (47%) der Patienten innerhalb von 5 Minuten nach Beendigung der Reanimationsmaßnahmen auf. Weitere 22% der Fälle beschreiben einen ROSC nach 5 – 10 Minuten. Bei den übrigen Fällen trat die Rückkehr des Spontankreislaufs nach später auf, in einzelnen Fällen auch noch nach Stunden des „Todes“ (Gordon L et al.).

Auch wenn beim biblischen Lazarus lediglich der Ruf von Jesus notwendig war, um ihn von den Toten zu erwecken, gab es beim medizinischen Namensvetter keinen berichteten Fall ohne Wiederbelebungsmaßnahmen (Hornby K et al.; Adhiyaman V et al.). Außerdem traten nahezu alle Fälle nach nicht-traumatischen Kreislaufstillständen auf.

Outcome

Wer von Euch beim Outcome nach Autoresuscitation an Zombies denkt, der täuscht sich. Das Outcome ist (überraschend) gut. Immerhin 35% überlebten bei Gordon L et al. bis zur Krankenhausentlassung und davon 82% mit einem guten neurologischen Outcome. Der Rest der Patienten verstarb oder hatte ein (schweres) neurologisches Defizit. Schaut man auf den EKG-Rhythmus bei Beendigung der Reanimationsmaßnahmen und das Überleben, zeigt sich ein altbekannter Zusammenhang. Alle Patienten mit einem Kammerflimmern überlebten bis zur Krankenhausentlassung, aber nur jeweils ein Drittel der Patienten mit PEA oder Asystolie.

Erklärungsversuche und Konsequenzen

Da alle berichteten Fälle nach Reanimationsmaßnahmen auftraten, liegt die Vermutung nahe, dass der ROSC aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen auftrat und lediglich der Zeitpunkt verzögert war. Mögliche Gründe könnten sein:

Beatmung

Airtrapping

Hohe Tidalvolumina, inadäquat hohe PEEP-Werte oder zu schnelle Beatmung (wer hat nicht schon einmal selbst in einer Stress-Situation eine AF von >25 appliziert?) führen, besonders bei Patienten mit einer strukturellen Lungenerkrankung, zu einem erhöhten intrathorakalen Druck. Dies führt zu einem reduzierten venösen Rückstrom und somit zu einer verminderten Vorlast. Eine adäquate Vorlast ist aber Voraussetzung für einen ROSC. Außerdem kommen applizierte Medikamente durch den verminderten venösen Rückstrom gar nicht oder nur verzögert am Herzen an (Duff JP et al.; Rosengarten PL et al.; Lapinsky SE et al.).

Hyperventilation

Eine Hyperventilation führt zu einer Verschlechterung der koronaren Perfusion und somit sowohl zu einer Verschlechterung der Gewebsoxygenierung, als auch zu einer Minderung der verfügbaren Medikamentenspiegel am Myokard (Aufderheide TP et al.).

Konsequenzen:

  • Sicherstellung einer adäquaten Ventilation inklusive Exspiration
  • Hyperinflation als Grund für einen Kreislaufstilstand oder ausbleibenden ROSC, insbesondere bei PEA, ausschließen

Therapeutische Überlegungen

Beatmung

Eine Verbesserung der Gewebsoxygenierung und Decarboxylierung nimmt in einer Reanimationssituation einen gewissen Zeitraum in Anspruch (Martens P et al.;Gordon L et al.).

verzögerte Medikamentenwirkung

Aufgrund der deutlich verlängerten Kreislaufzeit können peripher applizierte Medikamente deutlich verzögert wirken (Gordon L et al.).

verminderte Medikamentenwirkung

Besonders im Rahmen einer Azidose kann es zu einer deutlich verminderten Medikamtenwirkung kommen (Gordon L et al.).

Koronarer Perfusionsdruck

Patienten mit einem koronaren Perfusionsdruck von weniger als 15 mmHg haben nahezu keine Chance auf einen ROSC. Der Umkehrschluss ist leider nicht zulässig (Paradis NA et al.). Vor einer Beendigung von Wiederbelebungsmaßnahmen sollte daher eine minimale Vasopressoraktivität abgewartet werden.

transiente Asystolie nach Defibrillation

Im Anschluss an eine Defibrillation kann es zu einer vorübergehenden Asystolie kommen. Daher sollten Reanimationsmaßnahmen nicht direkt im Anschluss an eine Defibrillation beendet werden (Gordon L et al.).

reversible Ursache

Vor Beendigung einer Wiederbelebung muss zwingend geprüft werden, ob eine unbehandelte reversible Ursache vorliegt. (4H und HITS).

potentiell reversible Herzrhythmen

Besonders bei Herzrhythmen, die potentiell einen Auswurf haben oder mittels Defibrillation oder medikamentös therapierbar sind (also alle bis auf eine Asystolie), sollte eine Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen besonders gründlich abgewogen werden, bzw. eine prolongierte Wiederbelebung erfolgen (Gordon L et al.). Erschwerend kommt hinzu, dass es selbst im Rahmen einer Asystolie noch viele Minuten lang zu sporadischer elektrischer Aktivität kommen kann (Wijdicks EF et al.; Hornby K et al.; Dhanani S et al.).

Konsequenzen

  • Durchführung der Wiederbelebungsmaßnahmen für zumindest 20 Minuten
  • Einstellung der Maßnahmen am Ende eines Medikamenten-Zyklus
  • eventuelle kontinuierliche Medikamentengabe beenden
  • keine Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen direkt nach der Defibrillation
  • reversible Ursache vor Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen ausschließen
  • gründliche Abwägung vor Beendigung einer Wiederbelebung mit anhaltender elektrischer Aktivität

fälschliche Todesfeststellung

unbeobachtete Lebenszeichen

Minimale Vitalzeichen (a.e. Pseudo-PEA) werden bei der klinischen Untersuchung übersehen bzw. fehlgedeutet (Sahni V). Legt man die Prävalenz von Gordon L et al. zugrunde, kann die Wahrscheinlichkeit eines Lazarus-Phänomens durch eine 10-minütige Überwachung des Patienten nach Beendigung der Reanimationsmaßnahmen minimiert werden. Eine EKG-Überwachung erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll, da eine Autoresuscitation nach allen Periarrestrhythmen auftreten kann. Wir sollten uns aber bewusst machen, dass ROSC viel mehr ist als elektrische Aktivität im EKG und bei Rhythmen, die einen potentiellen Auswurf haben, nach zusätzlichen Lebenszeichen suchen (Bernat JL).

Fehldiagnose aufgrund einer unvollständigen Untersuchung

Vermeintliche Todeszeichen, wie zum Beispiel Unterkühlung oder Leichenstarre, können fehlgedeutet werden. Es sollten daher möglichst mehrere Zeichen eines Kreislaufstillstandes gesichert werden. Besonders bei unklaren Fällen kann die echokardiografische Sicherung eines Herzstillstandes eine sinnvolle Ergänzung sein (Linko K et al.; Hornby L et al.;).

Konsequenzen

  • 10-minütige Überwachung des „Leichnams“ nach Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen
  • Sicherung von mehreren Zeichen eine Kreislaufstillstandes
    • Pulslosigkeit
      • Palpation
      • Pulskurve
    • Periarrestrhythmus
    • niedriges exspiratorisches CO2
    • Herzstillstand
      • Auskultation
      • Echokardiografie
  • gründliche Leichenschau nach Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen

Limitationen

Es muss betont werden, dass ein Lazarus-Phänomen trotz einer hohen Dunkelziffer ein insgesamt seltenes Phänomen ist. Die Beendigung von Reanimationsmaßnahmen sollte generell mit großer Sorgfalt erfolgen, aber das Wissen um das Lazarus-Phänomen sollte die Entscheidung nicht verzögern (Gordon L et al.).

Punchlines

  • bei einer Asystolie ohne reversible Ursache sollten in Abwesenheit von sicheren Todeszeichen mindestens 20 Minuten lang Wiederbelebungsmaßnahmen erfolgen
  • Wiederbelebungsmaßnahmen sollten niemals direkt nach einer Defibrillation beendet werden
    • transiente Asystolie
  • es sollte eine adäquate Ventilation sichergestellt werden
    • Hyperinflation vermeiden
  • eine Beendigung von Wiederbelebungsmaßnahmen in Anwesenheit eine potentiell behandelbaren EKG-Rhyhmus sollte kritisch hinterfragt werden
  • nach Beendigung von Wiederbelebungsmaßnahmen sollte eine 10-minütige Überwachung des „Verstorbenen“ (evtl. mit EKG) erfolgen
  • das Wissen um das Lazarus-Phänomen sollte die Entscheidung zur Beendigung der Wiederbelebungsmaßnahmen nicht unnötig verzögern

Autoren

Dr. med. Thorben Doll

Arzt in Weiterbildung Anästhesiologie, aktiver Notarzt, lernte die Notfallmedizin von der Pike auf kennen, präklinische Erfahrung 17 Jahre und Gründer von Pin-Up- Docs.de

Johannes Pott

Arzt in Weiterbildung Anästhesiologie, aktiver Notarzt, Lieblingsbaustelle ist die Intensivstation. Seit 15 Jahren im Rettungsdienst und Gründer von Pin-Up-Docs.de

Quellen

Gordon L, Pasquier M, Brugger H, Paal P. Autoresuscitation (Lazarus phenomenon) after termination of cardiopulmonary resuscitation – a scoping review. Scand J Trauma Resusc Emerg Med. 2020;28(1):14. Published 2020 Feb 26. doi:10.1186/s13049-019-0685-4

Linko K, Honkavaara P, Salmenpera M. Recovery after discontinued cardiopulmonary resuscitation. Lancet. 1982;1(8263):106-107. doi:10.1016/s0140-6736(82)90242-2

Dhanani S, Ward R, Hornby L, et al. Survey of determination of death after cardiac arrest by intensive care physicians. Crit Care Med. 2012;40(5):1449-1455. doi:10.1097/CCM.0b013e31823e9898

Gerard D, Vaux J, Boche T, Chollet-Xemard C, Marty J. Lazarus phenomenon: knowledge, attitude and practice. Resuscitation. 2013;84(12):e153. doi:10.1016/j.resuscitation.2013.07.030

Wind J, van Mook WN, Dhanani S, van Heurn EW. Determination of death after circulatory arrest by intensive care physicians: A survey of current practice in the Netherlands. J Crit Care. 2016;31(1):2-6. doi:10.1016/j.jcrc.2015.09.006

Hornby K, Hornby L, Shemie SD. A systematic review of autoresuscitation after cardiac arrest. Crit Care Med. 2010;38(5):1246-1253. doi:10.1097/CCM.0b013e3181d8caaa

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Duff JP, Joffe AR, Sevcik W, deCaen A. Autoresuscitation after pediatric cardiac arrest: is hyperventilation a cause?. Pediatr Emerg Care. 2011;27(3):208-209. doi:10.1097/PEC.0b013e31820d8e1e

Rosengarten PL, Tuxen DV, Dziukas L, Scheinkestel C, Merrett K, Bowes G. Circulatory arrest induced by intermittent positive pressure ventilation in a patient with severe asthma. Anaesth Intensive Care. 1991;19(1):118-121. doi:10.1177/0310057X9101900126

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Sahni V. The Lazarus phenomenon. JRSM Open. 2016;7(8):2054270416653523. Published 2016 Aug 1. doi:10.1177/2054270416653523

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