Botulismus – Wenn es um die Wurst geht
Fallbeispiel:
Heute mal etwas anders. Nun ist etwas Vorstellungskraft gefragt. Du bist ein Amtsarzt in Württemberg, genauer gesagt in Wildbad im späteren Baden-Württemberg. Die napoleonischen Kriege (1792-1815) hinterließen sehr viel Armut im ländlichen Gebiet. Die hygienische Verhältnisse sind schlecht. Wir schreiben das Jahr 1811. Dein Name lautet Justinus Kerner. In Wildbad und Helzheim kam es innerhalb weniger Tagen erst zum Erkranken und anschließend zum rätselhaften Tod von mehreren Bewohnern. Kerner, der die Patienten untersuchte, wundert sich und schreibt im Kerzenschein in sein Notizheft „ Die Tränenflüssigkeit verschwindet, die Speiseröhre wird zu einem toten und bewegungslosen Rohr. In allen Schleimhohlräumen der menschlichen Maschine steht die Sekretion des normalen Schleims vom größten Magen bis zum Tränenkanal und den Ausscheidungskanälen der Lingualdrüsen still. Es wird kein Speichel ausgeschieden. Es ist kein Tropfen Nässe im Mund zu spüren, keine Träne wird mehr abgesondert. Im Gehörgang tritt kein Ohrenschmalz auf, auch Anzeichen eines Austrocknens der Eustachischen Röhre sind erkennbar. In der Nase wird kein Schleim ausgeschieden; Wenn keine Sperma mehr ausgeschieden wird, nehmen die Hoden ab. Das Wasserlassen kann nur im Stehen und mit Schwierigkeiten durchgeführt werden.“ Was die Patienten gemeinsam hatten, dass sie alle geräucherte Blutwurst gegessen hatten. Kerner führte verschiedene chemische Reaktionen mit den wässrigen Extrakten aus den Würsten durch. Als Kerner genug giftiges Extrakt hergestellt hatte, mischte er es mit Honig und verfütterte es an Säugetiere, Vögel, Frösche, Fliegen, Heuschrecken und Schnecken. Er zeichnete Experimente mit 12 Katzen, 4 Kaninchen, 4 Raben, 2 Eulen, 2 Spatzen, 3 Rotkehlchen, einer Taube und einer Meise auf. Die Symptome, die sich aus seinen Katzenversuchen ergaben, waren insbesondere mit den Symptomen der Vergiftung vergleichbar, die Kerner beim Menschen beobachtet hatte: Erbrechen, Darmkrämpfe, Mydriasis, Ptosis, Dysphagie und schließlich Atemversagen. Schließlich führte Kerner selbst heroische Experimente durch, bei denen er die Erfahrung machte, dass die Wurstextrakte tatsächlich sauer schmeckten und leichte Symptome des beginnenden Botulismus hervorriefen. Kerner schrieb: “Einige Tropfen der Säure, die auf die Zunge gebracht werden, verursachen ein starkes Austrocknen des Gaumens und des Rachens.“
Allgemeines:
Botulismus ist eine meldepflichtige Erkrankung, ca. 10-20 Fälle in Deutschland/Jahr, Kleinepidemien. In D ist Nahrungsmittelbotulismus am häufigsten, in den USA der Säuglingsbotulismus. Veterinärmedizinisch deutlich mehr Fälle (Tierkadaver in Silo). Botulus lat. Wurst, Toxine sind bei 100°C 15 min erhitzt inaktivierbar.
Pathophysiologie:
Botulinumtoxin wird von Clostridium botulinum gebildet. Dabei handelt es sich um grampositive, anaerobe, Sporenbildende Bakterien. Das gebildete Toxin nimmt der Mensch über verunreinigte Nahrung (Geräuchertes oder Konserven), über Sporen im Säuglingsalter oder über Wunden auf. Das Toxin verhindert irreversibel die Ausschüttung des Neurotransmitters Acetylcholin an der neuromuskulären Endplatte bis sich neue Synapsen gebildet haben. Die Übertragung des Nerven auf die Muskulatur wird damit gehemmt. Die Giftwirkung ist dosisabhängig. Ca. 100ng oral aufgenommen sind für den Menschen tödlich, 1g kann 10 Mio. Menschen töten. Inkubationszeit ca. 18-36h bei Nahrungsmittelbotulismus, ca. 7 Tage bei Wundbotulismus.
Symptome:
Die Symptomatik ist geprägt durch schlaffe, symmetrische, absteigende Paresen. Nahrungsmittelbotulismus beginnt häufig mit gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit/Erbrechen, zuerst Durchfall, später Obstipation), anschließend Augensymptome mit Ptosis (hängendes Lid), Doppelbilder (Diplopie) und Verschwommensehen, mit Arm- und Beinparesen schließlich der Lähmung der Atemhilfsmuskulatur. Gerne zusammengefasst und als Merkhilfe die „4 Ds“: Diplopie (Doppelbilder), Dysarthrie (Sprechstörung), Dysphagie (Schluckstörung), Dysphonie (Stimmstörung)
Frühsymptome sind anticholinerg geprägt (Mydriasis, Mundtrockenheit). Im Säuglingsalter zeigt sich eine typische Symptomatik mit Ptosis, Adynamie, muskuläre Hypotonie und Trinkschwäche.
Differentialdiagnostisch ist zu bemerken, dass die Symptome rein das motorische System betreffen. Sensibilitätsstörungen treten nicht auf, ganz selten Bewusstseinsstörungen.
Diagnostik:
Anamnese ! z.B. Verzehr von selbst eingekochtem, ggf. mehrere Patienten ?
Nachweis von Botulinum-Neurotoxin (BoNT) mittels Real-Time-PCR in Stuhlproben, Nahrungsmitteln, Speisebrei und Wundabstrich. Ergebnis nicht abwarten, sondern Therapie beginnen.
Bildgebung, Lumbalpunktion (LP), Tensilon-Test zeigen keine Beeinträchtigung. Im der Elektromyographie (EMG) zeigt sich ein verringertes Aktionspotential.
Differentialdiagnosen:
Myasthenia Gravis: langsamerer Verlauf, Muskeln erschöpfbar, positiver Tensilon-Test; Guillain-Barré-Syndrom: Paresen steigen von distal auf, positive LP; Miller-Fischer-Syndrom: Ataxie und positive LP; Diphtherie: Mibi-Abstrich, belegte Tonsillen, Halsschmerzen: Poliomyelitis: positive LP, Fieber, Kopfschmerzen
Therapie:
Intensivmedizinische Überwachung: Aspirationsgefahr, Atemlähmung (Erholung dauert Wochen bis Monate), lange symptomatische Therapie
Heptavalentes Antitoxin (vom Pferd) gegen die Serotypen A-G erhältlich (BAT®) 20 und 50ml, kann 48h gegeben werden. Vorher Intracutantestung, da Anaphylaxie möglich. Dann kontinuierliche Gabe nach Packungsbeilage.
Wundbotulismus: operatives Wunddebridement, Penicillin-G-Gabe (3 x 5-10 Mega)
Ggf. endoskopische Magenspülung und Entfernung Nahrungsbestandteile, Laxantien und Motilitätssteigernde Medikamente ebenso wie Neostigmingaben keine Evidenz.
Magnesiumgabe ist kontraindiziert, da es die Giftwirkung verstärkt.
Autorin
Ines Severloh
Referenzen:
AWMF S1-Leitlinie Botulismus – gültig bis 31.08.22
Pfausler B. et al. S1-Leitlinie Botulismus. 2017. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 21.12.2020)
Herold G. Innere Medizin: eine vorlesungsorientierte Darstellung ; unter Berücksichtigung des Gegenstandskataloges für die Ärztliche Prüfung ; mit ICD 10-Schlüssel im Text und Stichwortverzeichnis. Köln: Herold; 2019
RKI Epidemiologisches Bulletin Botulismus
Ahsanuddin, S., Roy, S., Nasser, W. et al. Adverse Events Associated With Botox as Reported in a Food and Drug Administration Database. Aesth Plast Surg (2020). https://doi.org/10.1007/s00266-020-02027-z
Lonati D, Schicchi A, Crevani M, Buscaglia E, Scaravaggi G, Maida F, Cirronis M, Petrolini VM, Locatelli CA. Foodborne Botulism: Clinical Diagnosis and Medical Treatment. Toxins (Basel). 2020 Aug 7;12(8):509. doi: 10.3390/toxins12080509. PMID: 32784744; PMCID: PMC7472133.
Historical aspects of botulinum toxin, Justinus Kerner (1786–1862) and the “sausage poison”, Frank J. Erbguth, Markus Naumann Neurology Nov 1999, 53 (8) 1850; DOI: 10.1212/WNL.53.8.1850
Podcast:
This Podcast will kill you Episode 48 Botulism – why are you the way you are ?
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