Penicillinallergie – Nichts ist, wie es scheint

Wir leben in einer Welt, in der Traum und Wirklichkeit nah bei einander liegen, in der Tatsachen oft wie Fantasiegebilde erscheinen, die wir uns nicht erklären können. Können Sie Wahrheit und Lüge unterscheiden? (Jonathan Frakes)

Fallbeispiel:

Eine 54-jährige Patientin stellt sich in der Notaufnahme mit Fieber 39°C und Klopfschmerz im Nierenlager mit Verdacht auf eine Pyelonephritis vor. Sie gibt an, dass eine Penicillinallergie vorliegt. Der diensthabende Notaufnahmearzt ordnet Ciprofloxacin i.v.-Gaben an.

Am nächsten Morgen wird die Patientin zu ihrer Allergie weiter befragt. Die Mutter der Patientin sei gegen Penicillin allergisch und sie selber habe mal schweren Durchfall nach einer Penicillingabe bekommen. Der Patientin geht es nicht wirklich besser. Sie hat immer noch ein starkes Krankheitsgefühl und auch starke Schmerzen. Die Urinkulturen zeigen, dass die gefundenen Enterokokken gegen Ciprofloxacin resistent sind.

Allgemeines:

5-10 % der Bevölkerung denkt sie sei gegen Penicillin allergisch. Aber von ihnen können 90-95 % Penicillin gut tolerieren. Warum ist das so?

  • Eine Penicillinallergie ist kein dauerhafter Zustand, sondern klingt über die Jahre ab. 80 % der Menschen verlieren ihre Anaphylaxie in 10 Jahren, 50 % innerhalb 5 Jahren.
  • Ausschläge im Rahmen von Virusinfektion führen zu Fehldiagnosen (u.a. bei infektiöser Mononukleose).
  • Nebenwirkungen der Antibiotika werden als Allergien gewertet.
  • Vermutung einer genetischen Veranlagung der Penicillinallergie

Warum wird von einer Penicillinallergie so häufig berichtet? Seit 1940 ist Penicillin eines der häufigsten verschriebenen Medikamente. Also hatten wir 80 Jahre lang Zeit ein unterschiedliches Verständnis, was wir uns unter einer Penicillinallergie vorstellen, zu entwickeln.

Warum nicht einfach ein alternatives Antibiotikum nehmen? Schließlich möchten wir ja Patient*innen schützen, dadurch dass wir die Allergie dokumentieren. Ist doch nicht so schlimm? Doch!

  • Viele Patient*innen bekommen daher weniger effektive Zweitlinien-Therapien. (z.B. bei Staphylokokkenendokarditis: Flucloxacillin vs. Vancomycin)
  • Breitspektrumantibiosen mit höherem Nebenwirkungspotential, längere Therapiezeiten, höhere Wahrscheinlichkeit der Besiedlung eines multiresistenten Erreger (55 % höheres Risiko)
  • Deutlich mehr unerwünschte Wirkungen der Alternativmedikamente z. B. Fluorchinolone (QT-Zeitverlängerung, Sehnenschäden), Gentamicin (Ototoxizität)
  • Risiko für Infektionen nach Operationen steigt beträchtlich (geänderte perioperative Antibiotikaprophylaxe, 50 % mehr „Surgical Side Infections“ (SSI))
  • 35 % höheres Risiko für eine Clostridieninfektion (Seit 2016: Clostridioides difficile) beachtlich größer (Pseudomenbranöse Kolitis). Meist sind Therapien mit Clindamycin, Cephalosporinen oder Fluorchinolonen Auslöser
  • Betalactamantibiotika sind relativ günstig im Vergleich zu Alternativpräparaten

Wir übernehmen die Diagnose Penicillinallergie um Patient*innen zu schützen, aber falsch diagnostiziert schädigt sie Patient*innen. So fallen ungefähr 14 unterschiedliche Wirkstoffe in der Therapie aus. (Penicillin G & V, Amoxicillin, Piperacillin, Benzylpenicillin, Flucloxacillin, Methicillin, Pivmecillinam, Temocillin, Sultamicillin, und die Kombinationen mit Betalaktamasehemmer: Avibactam, Tazobactam, Clavulansäure, Sulbactam)

Wie sieht es mit Kreuzreaktionen aus?

Betalaktamantibiotika sind alle ähnlich aufgebaut, dem Namen folgend um einen Betalaktamring. Allergien gegen den Betalaktamring sind bisher nicht beschrieben, sonst wären die Patient*innen gegen alle vier Vertreterklassen (Penicilline, Carbapeneme, Cephalosporine, Monobaktame) allergisch. Die Allergien zielen auf einen der Seitenreste und diese sind mehr oder weniger unterschiedlich. Für alle, deren Steckenpferd nicht die Biochemie war: Mal angenommen alle Betalactamantibiotika seien Autos. Daher sehen sie zunächst alle sehr ähnlich aus. Die Polizei (Mastzellen, basophile Granulozyten) zieht zur Kontrolle aber sehr gerne die mit dem Sportauspuff oder dem besonderen Spoiler raus, was quasi dem R1-Rest in der chemischen Verbindung entspricht. Die Medikamente Ampicillin, Amoxicillin, Cefalexin und Cefaclor (Erstgenarations-Cephalosporine) haben zum Beispiel alle den gleichen Sportauspuff, daher ist es häufiger, dass Patient*innen, die gegen Aminopenicilline allergisch sind, auch auf die beiden Vertreter der Cephalosporine reagieren. Es gibt Medikamente mit individuellen Seitenästen (Cephazolin Yeah !!! Und Ceftarolin), hier treten keine Kreuzreaktionen auf – Jubel auf Seiten der Orthopädie. Und für Meropenem wurden bisher keine Allergien beschrieben (bei quasi nicht vorhandenem Seitenast).

Kreuzreaktionen zu Cephalosporinen sind sehr selten. Ca. 3 % der wirklich Penicillinallergiker*innen haben eine zusätzliche Cephalosporinallergie, auf Carbapeneme sind es nur ca. 1 %.

Hierzu gibt es Kreuztabellen von Prof. Blumenthal, wobei ähnliche oder identische Reste der Tabelle der Betalactamantibiosen gekennzeichnet sind.

Und so stellt sich heraus, dass es auch eine „Penicillinallergie“ an und für sich gar nicht gibt. Man unterscheidet 4 verschiedene Typen an Penicillinen: Natürliches Penicillin (Penicillin G & V), Aminopenicilline (Amoxicillin, Ampicillin), Penicilline mit Staphylokokkenwirkung (Flucloxacillin) und pseudomonaswirksame Penicilline (Piperacillin). Wenn man von Penicillinallergie spricht, ist meistens die Aminopenicillinallergie gemeint. So kann es sein, dass jemand mit Aminopenicillinallergie, z. B. Piperacillin sehr gut vertragen kann.

Kurze Wiederholung der Reaktionen nach Coombs und Gell

  • Typ I, IgE vermittelt, Mastzellgranulation, innerhalb kurzer Zeit (Sofortreaktion), die eigentliche Allergie/Anaphylaxie
  • Typ II, IgG, cytotoxische Reaktion, komplement-vermittelte Phagozytose, 3 Tage – 2 Wochen, Hämolytische Anämie/Thrombozytopenie
  • Typ III, Serumkrankheit, Fieber, Ausschlag, Gelenkschmerzen, 1-2 Wochen, Antikörperkomplexe
  • Typ IV, T-Zell-vermittelt, zumeist benigner, makulopapulöser Ausschlag nach 1-2 Wochen

Und schwere Typ IV-Reaktion, z.B. drug reaction eosinophilia and systemic symptoms syndrome (DRESS), 2 – 6 Wochen, Fieber, Lymphadenopathie, Eosinophilie, Hautausschlag, schwere Verlauf bis Letalität

Stevens-Johnson Syndrome (SJS) & Toxic Epidermal Necrolysis (TEN), 4d bis Monate, häutender Ausschlag mit Schleimhautbeteiligung

Makulöses Exanthem in 5 – 20 % der Fälle unter der Therapie mit Penicillinen. Bei der Verwendung von Penicillinen (vor allem Ampicillin und Amoxicillin) im Rahmen einer Epstein-Barr-Virus-Infektion (Infektiöse Mononukleose) entsteht zu 90 % ein masernartiges Exanthem.

Die Frage ist:

Liegt wirklich eine gefährliche Allergie (Anaphylaxie) oder ein Steven-Johnson-Syndrom vor, oder eine eher milde verzögerte Hautreaktion oder gar typische Nebenwirkungen (z. B. GI-Symptome)? Oder wurde die Dokumentation nur im Rahmen einer Familienanamnese zu den der Patient*innen zugeführt?

Wenn man sich die dokumentierten Penicillinallergien anschaut und dann weiß, dass die Information zu 95 % falsch ist, hat man anschließend einen ganz anderen Blick auf die Dinge.

Anamnese:

Jede Angabe von Antibiotikaallergie sollte hinterfragt werden. Anhand der Informationen sollte eine Risikostratifizierung unternommen werden.

Welches Medikament wurde zu welchem Zweck gegeben und welche Reaktion trat wie schwer auf? Musste der/die Patient*in stationär sogar intensivmedizinisch behandelt werden (ggf. in einem Verbrennungszentrum, kam es zur Intubation/Beatmung) ?

Wie lange ist der Vorfall her ? Denn Allergien sind nicht für die Ewigkeit. Nicht wie eine Liste, die immer länger wird im Laufe eines Lebens, sondern auch wieder abnehmen kann (50 % nach 5 Jahren, 80 % nach 10 Jahren).

Gefährliche Reaktionen liegen vor, wenn die Reaktion in kürzester Zeit (meist innerhalb der ersten Stunde nach Verabreichung, 85 % in den ersten 15 Minuten) nach der Erstgabe auftrat. Oder wenn zwei und mehr Organsysteme beteiligt an der Reaktion waren (Kardiovaskuläres System, Haut- und Schleimhaut: Urtikaria, Schleimhautschwellungen Gesicht/Lippen, GI-Symptome, Respiratorisches System: Bronchokonstriktion, Nasenlaufen). Nur Hypotonie nach Medikamentengabe reicht für eine Anaphylaxiediagnose nicht aus. Nur Ausschlag oder nur Juckreiz ohne Ausschlag sprechen für eher milde Symptomatik, die gegen eine Typ I-Reaktion sprechen. Unwahrscheinlich ist eine Anaphylaxie, wenn nur typische Nebenwirkungen oder nur Familienanamnese (keine hereditäre Vererbung) notiert wurden.

Gab es Antibiotika, die vertragen wurden? Manchmal sind da schon Penicilline dabei… 😊 Dann kann man geschmeidig die Diagnose löschen.

Empfehlungen

Wenn die Zeit es zulässt (z. B. vor elektiven Operationen):

Allergologische Abklärung: Coombs Typ I Allergien sind gut testbar (Prick und intradermale Testung für IgE-Antikörper vermittelte Allergie)

Keine Zeit zur Abklärung:

Testdosis geben bei niedriger Wahrscheinlichkeit (z.B. Patient*innen mit GI-Symptomen nach Antibiose, oder rein positive Familienanamnese) in der Anamnese auf Penicillinallergie unter engmaschigem Monitoring.

Hohes Risiko auf stattgefundene Anaphylaxie oder SJS: Keine Penicilline oder mögliche auslösende Medikamente verabreichen.

Punchlines:

  • Penicillinallergien sind seltener als sie berichtet werden.
  • Eine dokumentierte Penicillinallergie (solange sie nicht stimmt) schadet dem Patienten.
  • Allergieanamnese ist wichtig, sollte aber auch differenziert gemacht werden um das Risiko der Verabreichung kalkulierbar zu machen.
  • Allergien sind nicht genetisch vererbbar
  • Allergien sind nicht für immer, sondern nehmen über die Zeit ab.

Autorin

Ines Severloh

Referenzen:

Shenoy ES, Macy E, Rowe T, Blumenthal KG. Evaluation and Management of Penicillin Allergy: A Review. JAMA. 2019;321(2):188–199. doi:10.1001/jama.2018.19283

Blumenthal KG, Peter JG, Trubiano JA, Phillips EJ. Antibiotic allergy. Lancet. 2019 Jan 12;393(10167):183-198. doi: 10.1016/S0140-6736(18)32218-9. Epub 2018 Dec 14. PMID: 30558872; PMCID: PMC6563335.

Trubiano JA, Grayson ML, Thursky KA, Phillips EJ, Slavin MA. How antibiotic allergy labels may be harming our most vulnerable patients. Med J Aust. 2018 Jun 18;208(11):469-470. doi: 10.5694/mja17.00487. PMID: 29902399; PMCID: PMC6167469.

Caubet, J. C., Kaiser, L., Lemaître, B., Fellay, B., Gervaix, A., & Eigenmann, P. A. (2011). The role of penicillin in benign skin rashes in childhood: a prospective study based on drug rechallenge. Journal of Allergy and Clinical Immunology, 127(1), 218-222.

Picard, M., Robitaille, G., Karam, F., Daigle, J. M., Bédard, F., Biron, É., … & Bégin, P. (2019). Cross-reactivity to cephalosporins and carbapenems in penicillin-allergic patients: two systematic reviews and meta-analyses. The Journal of Allergy and Clinical Immunology: In Practice7(8), 2722-2738.

Blumenthal, K. G., Ryan, E. E., Li, Y., Lee, H., Kuhlen, J. L., & Shenoy, E. S. (2018). The impact of a reported penicillin allergy on surgical site infection risk. Clinical Infectious Diseases, 66(3), 329-336.

Up to date – Allergy evaluation for immediate penicillin allergy

https://www.uptodate.com/contents/penicillin-allergy-immediate-reactions

Sanford Guide App – Penicillin allergy

Podcasts:

Core IM Pearls on penicillin allergy

Ask a Fellow: Rash Decisions – Penicillin Allergy The Intern At Work: Internal Medicine

 https://www.theinternatwork.com/infographics/2019/4/13/penicillin-allergy

AAAAI – Podcast

Penicillin Allergies: Over-diagnosed and Under-addressed with Kimberly G. Blumenthal, MD, MSc.

Transkription des Interviews

EMCrit – The Internet book of critical care – Approach to beta-lactam allergy in critical care

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3 Kommentare

  • Tobias Fritsch

    Hier wurde ein Problem beschrieben, dass viele nicht wahr haben wollen: eine falsch dokumentierte Allergie schadet dem Patienten.
    Genau das sage ich auch immer meinen Patienten. Jeder zweite sagt, er habe eine Penicillinallergie. Die Hälfte von denen, die das sagen, weiß nicht mal was da passiert sei, wie lange es her ist und erstrecht nicht, welches Präparat es war.
    Dann frage ich meist, ob sie keine Luft mehr bekommen haben, ob sie ins Krankenhaus mussten oder ob sie einen Hautausschlag hatte. Meist einigen wir uns dann, dass wohl keine allergische Reaktion vorlag.
    Zu beachten ist auch, dass viele Patienten Antibiotika allgemein mit Penicillin gleich setzen.
    Ich denke, genau wie die Autoren, dass es eine wichtige Aufgabe ist jede anamnestische Angabe einer Allergie genau zu hinterfragen. Unseren Assistentinnen und Assistenten ziehe ich immer die Ohren lang – nein, natürlich nicht – aber ich versuche mit gezielten Fragen den Blick für genau diese Problematik zu schärfen.
    Vielen Dank für diesen Artikel!

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