„To Live And Let Die“ – Teil I – nicht anfangen

Nicolas Cage in „Bringing out the dead“

Wann ist der richtige Zeitpunkt aufzuhören? Wann ist der richtige Zeitpunkt um eine Reanimation einzustellen oder gar nicht erst zu beginnen? Ein Thema das im Studium und in den Reanimationskursen oft zu kurz kommt.

GRC Algorithmus für den Advanced Cardiac Lifesupport

Habt ihr schon mal einen ACLS Kurs besucht? Wir – gefühlt – hunderte. Begonnen haben wir mit 15:2 und 3 monophasischen Schocks mit aufsteigenden Energieniveaus. Wir haben 3mg Adrenalin in den Tubus gespritzt und umständlich den richtigen Druckpunkt gesucht. Heute ist das „Drücken“ in den Fokus gerückt; 15:2 gibt es nur noch bei der Kinderreanimation; keiner spritzt irgendetwas in den Tubus und es wird EINMAL alle 2 Minuten biphasisch defibrilliert. Es hat sich viel geändert! Aber eine Sache hat sich nicht geändert. Ein Problem das einem am Anfang seiner Karriere vielleicht gar nicht so bewusst ist (uns zumindest nicht). Aber schaut euch den aktuellen GRC-Algorithmus doch einmal genau an! Was fällt euch auf? Genau denn dieser Algorithmus und alle vorher sind nahezu eine Endlosschleife. Der einzige mögliche Ausweg ist ein ROSC (return of spontaneous circulation). Für diesen Fall hat die GRC/AHA/ERC noch viele nützliche Ratschläge für uns:

  • ABCDE anwenden
  • SpO2 zwischen 94% und 98%
  • Normokapnie anstreben
  • 12-Kanal-EKG schreiben (und möglichst an die Zielklinik faxen)
  • H’s und HITS durchgehen
  • Temperaturmanagement

Alles richtige und wichtige Punkte. Aber wann ist der richtige Zeitpunkt an dem wir unsere Bemühungen einstellen? Wo ist der Short-Cut um den Algorithmus zu umgehen? Wann muss man der Natur auch mal ihren Lauf lassen? Keiner hat in einem dieser unzähligen Reanimationskurse darüber mit uns geredet. Entweder die „Patienten“ (gemeint ist meist die arme Puppe, auf deren Federmechanismus wir uns auslassen und deren Latexhülle wir mit allerlei Schläuchen maltretieren) hat am Ende unserer Bemühungen wieder einen Sinusrhythmus oder das Fallbeispiel wird schon nach 3-4 Zyklen (wenn nämlich alle Schläuche stecken) abgebrochen. Schon klar, wir sollen mit einem positiven Gefühl aus einer solchen Übung herrausgehen, aber alle Studien und unsere alltägliche Erfahrung zeigt, dass der viel häufigere Fall ein anderer ist.

In den GRC Leitlinien von 2015 ist von einer durchschnittlichen Überlebenswahrscheinlichkeit bis zur Krankenhausentlassung bei einem Kreislaufstillstand von 7,6 % die Rede. Dies ist ein Durchschnittswert für präklinische und innerklinische Kreislaufstillstände, welcher aus 9 europäischen und amerikanischen Studien gemittelt wurde. Die aktuellste und mit Abstand größte Studie in diesem Zusammenhang (Paramedic II) gibt in der Adrenalin-Gruppe (in der in unserem Alltag ja jeder Reanimierte ist) eine (überraschend hohe) Rate von Überlebenden bis zur Krankenhausaufnahme von 23,8 % an. Bis zur Krankenhausentlassung überleben hier allerdings nur 3,2 %. Diese deutlich geringere Quote ist sicherlich darauf zurück zu führen, dass es sich bei Paramedic II um eine rein präklinische Studie handelt (größere Verzögerung bis zum Beginn einer „high quality CPR“). Aber egal welche Zahlen wir uns anschauen, ein Großteil unserer Behühungen bleibt frustran.

Wann ist also der richtige Zeitpunkt zum Aufhören? Lasst uns die Sache mal auseinander nehmen…

Wer entscheidet?

WIR! – Also das medizinische Personal. Die Entscheidung über den Beginn einer cardio-pulmonalen Reanimation stellt das ersteintreffende Fachpersonal. Über die Beendigung bereits eingeleiteter, professioneller Maßnahmen entscheidet (in Deutschland) meist der Arzt. So sieht es die GRC. Einerseits ist das natürlich eine belastende Aussage. Wir sollen entscheiden wann ein Leben (offiziell) zu Ende geht. Andererseits sollten wir uns auch die zweite Botschaft dieses Satzes klar machen: Nicht die Angehörigen, Nicht die Erst-Helfer, Nicht die Rettungsleitstelle und schon gar Nicht die Pflegedienstleitung irgendeines Wohnheims entscheiden über unsere Maßnahmen, sondern WIR selbst. Angehörige sind in einem solchen Moment in einer emotionalen Ausnahmesituation und haben – verstärkt durch Film und Fernsehen – oft unrealistische Erwartungen an die Erfolgsaussichten unserer Maßnahmen.

„Reanimationsbemühungen“ im Film Baywatch mit Dwane „The Rock“ Johnson

Auf welcher Grundlage sollen wir eine solche Entscheidung also treffen?

1. Nicht anfangen

Sichere Todeszeichen

Gar nicht erst anfangen sollten wir, wenn sichere Todeszeichen vorliegen. Als sichere Todeszeichen gelten:

  • Leichenstarre (Rigor mortis)
  • Leichenflecken (Livor mortis)
  • Fäulnis
  • „mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen“

Leichenstarre

Die Leichenstarre entsteht durch einen Mangel an ATP an den Muskelproteinen Aktin und Myosin, die durch diesen Mangel eine festen Verbindung eingehen. Das auftreten der Leichenstarre ist Temperatur abhängig (bei Hitze schneller – bei Kälte langsamer). Bei Zimmertemperatur tritt die Leichenstarre nach ca. 2 h auf. Sie beginnt in der Kiefermuskulatur und breitet sich über die kleinen zu den großen Gelenken aus (Nysten-Regel). Die volle Ausprägung liegt nach ca. 12h vor.

Mindestens 2 h nach Todeseintritt wollen und können wir sicher niemanden mehr reanimieren. Praxistipp: Griff an den Kiefer vor Beginn einer Reanimation. Damit kann eine Leichenstarre sicher ausgeschlossen werden und zeitgleich ein ggf. vorliegendes A-Problem gelöst werden.

LeichenfleckenTotenflecken entstehen durch das schwerkraftbedingte Absinken des Blutes im Körper. Sie treten (ebenfalls temperaturabhängig) bereits 20 Minuten nach dem Todeszeitpunkt auf. Sie sind damit das am frühsten auftretende Todeszeichen. Aufgrund der Schwerkraft treten sie immer am tiefsten Punkt des Körpers auf. (Rückenlage: Rücken / beim Erhängten: Beine und Hände). Bis ca. 36 h nach Todeszeitpunkt sind die Totenflecken noch „wegdrückbar“.

Leiche mit Totenflecken – aus dem Artikel Totenfleck bei Wikipedia

Es wird immer wieder davon erzählt, dass Leichenflecken auch bei Lebenden auftreten können. Stimmt! Bei fortgeschrittender Herzinsuffizienz ist das denkbar. Aber dieses Phänomen tritt hauptsächlich innerklinisch im Rahmen von maximal Therapien (Herz-Lungen-Maschine / ECMO) auf. Präklinisch und auf „Normalstation“ bleiben Totenflecken sichere Todeszeichen (Auch im Rahmen einer „Maximaltherapie“ die sie prognostisch eher negative Prädiktoren.

Fäulnis

Dies ist die späteste Folge eines eingetretenden Todes. Beginnend mit eines Autolyse (Selbstzersetzung durch Enzyme) über bakterielle Zersetzung bis hin zu Insekten die zur Auflösung des Leichnams beitragen.

Wir müssen über die Irreversibilität eines solchen Zustandes an dieser Stelle wohl nicht weiter reden.

„Mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen“

  • Enthauptung
  • Durchtrennung des Torsos
  • Verkohlung
  • schwere Verletzungen durch Waffen
  • etc.

Bei der Fortsetzung dieser Liste soll eurer Fantasie keine Grenzen gesetzt werden. Da wir alle eine medizinische Ausbildung genossen haben, sollten wir in der Lage sein solch eindeutige Zustände zu erkennen und sollte es einmal nicht so eindeutig sein, heißt es wohl: „Im Zweifel für den Angeklagten“.

Patientenverfügungen und der mutmaßliche Patientenwille

Ob es uns passt oder nicht, wir leben in der Zeit der Patientenautonomie. D.h. es ist die Pflicht eines jeden Arztes (und eines jeden der mit der Patientenbetreuung bedacht ist) die Überzeugungen und Wertvorstellungen des Patienten zu respektieren. Ein Teil der Patienten hat, für den Fall einer möglichen Wiederbelebung oder eines anderen kritischen Zustandes in dem er nicht selbst Entscheidungen treffen kann, eine Patientenverfügung/Vorrausverfügung formuliert, damit sein Wille auch in diesen Fällen beachtet werden kann.

Leider sind diese Verfügungen uneinheitlich, zum Teil mehrere Seiten lang und von Juristen und nicht von Medizinern formuliert, was eine Interpretation schwierig macht.

Innerklinisch

Es sind die unterschiedlichsten Begriffe im Umlauf:

  • DNAR = „Do Not Attempt Resuscitation“
  • DNACPR = „Do Not Attempt Cardio-pulmonary Resuscitation“
  • AND = „Allow Natural Death“
  • KLM = „Keine Lebensverlängernden Maßnahmen“

Leider gibt es auch hier keine einheitliche Begriffsdefinition welche international, national oder auf Länderebene regelt welche Maßnahmen in einem solchen Fall durchgeführt werden sollen und welche unterlassen werden sollen.

Aus unserer Sicht sollte bei allen Patienten schon bei der Aufnahme ein Gespräch über erwünschte oder unerwünschte Maßnahmen geführt werden. Das ist im stressigen Alltag der Notaufnahme schwierig, allerdings je schwerer die Erkrankung desto wichtiger. Verschlechterungen/Komplikationen entstehen immer Nachts und am Wochenende, wenn keine Angehörigen erreichbar sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine unvorhergesehene potentiell tödliche Komplikation auftritt, steigt – in unserer Erfahrung – Sonntag Nachts exponentiell an. In diesen Situationen ist dann entweder niemand mehr erreichbar oder das Gespräch muss unter Zeitdruck am Telefon geführt werden. Die Argumente gegen ein solches fühzeitiges Gespräch die am häufigsten vorgebracht werden sind:

  1. ein solches Gespräch sollte von einem erfahrenen Kollegen geführt werden
  2. ein solches Gespräch ist schwierig / unangenehm für den Arzt
  3. ein solches Gespräch belastet den Patienten und die Angehörigen

Wir halten diese Argumente für unzulässig denn:

  1. Ja, das ist sicherlich sinnvoll, aber im klinischen Alltag oft nur schwierig möglich. Daher sollte, aus unserer Sicht, möglichst der Kollege, der den ersten Kontakt mit dem Patienten und den Angehörigen hat die Eckpfeiler der Therapie festzurren.
  2. Richtig! Aber es gehört zu unseren nicht delegierbaren ärztlichen Aufgaben, genau wie die digital rektale Untersuchung im Rahmen eines Ileus.
  3. Auch das ist nicht vollständig von der Hand zu weisen, aber Patientenautonomie bedeutet nicht nur, dass der Patient / die Angehörigen mitbestimmen dürfen, sondern auch, dass sich die Entscheidungsträger Gedanken über unangenehme Konsequenzen machen müssen.

Sicherlich ist es aber nicht der richtige Weg den Patienten / die Angehörigen unter Druck zu setzten. Sprecht das Thema an und versucht die wichtigsten Eckpunkte festzustecken. Sollten die Beteiligten vollständig überfordert sein, entlasst sie mit der Bitte sich zeitnah (noch im Rahmen des bevorstehenden Krankenhausaufenthaltes) Gedanken zu machen.

Abschießend noch eine Bitte: Streicht die Formulierung „Soll ALLES gemacht werden?“ ab sofort aus eurem Wortschatz. Was soll denn bitte ALLES sein? ALLES medizinisch mögliche (inclusive Beatmung, Dialyse, ECMO)? ALLES medizinisch sinnvolle? und noch viel wichtiger: Was verstehen die Patienten unter ALLES?

Stellt konkrete Fragen! Hier unsere Empfehlungen für den Erstangriff: Möchten Sie / Hätte Ihr Angehöriger…

  • küntliche Beatmung inklusive Intubation
  • kreislaufunterstützende Medikamente
  • Dialyse
  • küntliche Ernährung
  • Wiederbelebung

gewollt. Wenn ein solches Gespräch nun geführt wurde, müsst ihr das tuen, was wir heutzuztage am besten können: dokumentieren. Wo? An einer Stelle an der es JEDER, in die Betreuung des Patienten involvierter, Krankenhausmitarbeiter schnell finden kann. In welcher Form? So eindeutig wir ihr euch Informationen wünscht, wenn ihr in eurem 3. Nachtdienst um 04:00 zu einem fremden Patienten zur Wiederbelebung gerufen werdet. Wie? Das obliegt derzeit eurer klinikinternen Absprache. Sollte eine Patientenverfügung in schriftlicher Form vorliegen ist es die Aufgabe des Aufnehmenden und in der Folge jedes behandelnden Arztes den Inhalt dieser Verfügung zu kennen. Am Besten werden die Eckdaten einer Patientenverfügung in oben genannter Form notiert, damit jeder schnell darauf zugreifen kann.

Sollte der Wille des Patienten nicht auf zwei Blicke ersichtlich sein und sollten keine sicheren Todeszeichen vorhanden sein, heißt es zunächst einmal reanimieren – d.h. wir spulen das ab, was wir sooft geübt haben, dass wir es im Schlaf können; Drücken, Beuteln, Drücken, Fast-Patch, Drücken, EKG-Rhyt…….

Präklinsich

Präklinisch ist die Situation nicht leichter. Es ergeben sich gleich eine Reihe von Problemen:

  • deutlich längere Verzögerung bis zum Beginn einer Herzdruckmassage
    • längere „No-Flow-Time“
    • mehr Zeitdruck
  • Adhoc-Teams
    • mehr Zeit für Kommunikation und Supervision im Team nötig
  • keine „Patienten-Akte“
    • Informationsbeschaffung deutlich erschwert
  • mutmaßlicher Patientenwille schwerer zu eruieren
    • Patientenverfügung nicht greifbar
    • Überprüfung der Patientenverfügung auf die konkrete Situation schwierig

All diese Unwegbarkeiten führen dazu, dass wir präklinisch nach einer Kontrolle der sicheren Todeszeichen zunächst mit Reanimationsmaßnahmen beginnen, um die „No-Flow-Time“ möglichst gering zu halten. Dies entbindet uns aber nicht von unserer Pflicht eine Anamnese zu erheben und im Rahmen dieser Anamnese zu versuchen den mutmaßlichen Patientenwillen zu evaluieren.

Punchline

  • WIR entscheiden wann eine Reanimation sinnvoll ist
  • keine Reanimation bei sicheren Todaszeichen
    • Leichenstarre (Rigor mortis)
    • Leichenflecken (Livor mortis)
    • Fäulnis
    • „mit dem Leben nicht zu vereinbarende Verletzungen“
  • der mutmaßliche Patientenwille muss frühzeitig evaluiert werden
  • es sollte klinikinterne Absprachen/Standards zur Dokumentation des mutmaßlichen Patientenwillens geben
  • präklinisch sollte ebenfalls versucht werden den mutmaßlichen Patientenwillen zu evaluieren

Versteht uns nicht falsch – im Zweifel für das Leben. Wenn der Patientenwille Leben ist und es medizinisch sinnvoll ist, sollten wir alles in unserer Macht stehende tun um Leben zu retten. Aber wenn es medizinisch nicht sinnvoll ist oder nicht dem Patientenwillen entspricht, ist es unsere Pflicht es zu unterlassen. Außerdem wiegt unsere Pflicht diesen Zweifel auszuräumen genauso schwer, wie es unsere Pflicht ist einen Aspirationsgefährdeten zu intubieren oder bei Brustschmerzen ein 12-Kanal-EKG anzufertigen.

Jetzt wissen wir wann wir nicht anfangen – in Teil II wollen wir uns Kriterien anschauen die den Abbruch einer bereits laufenden Reanimation rechtfertigen.

Quellen

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