Offene Frakturen – Wenn Knochen aus der Haut fahren…

Fallbeispiel:

Ihr fahrt mit dem Rettungsdienst in ein entlegenes Waldgebiet. Dort habe ein Forstarbeiter versucht, einen umgefallenen Baum zu zersägen. Es stellte sich heraus, dass dieser unter Spannung stand und mit dem Stamm gegen den Patienten stieß und auf ihm zu liegen kam. Zur Rettung ist bereits die freiwillige Feuerwehr des Ortes da, die den Stamm anhebt, um den Patienten darunter wegzuziehen. Im Primary Survey zeigt sich derzeit keine bedrohliche Blutung. Er kann mit uns sprechen, daher kein A-Problem. Er hat aber ein beginnendes B-Problem, er scheint nämlich Probleme beim Atmen zu haben. Der Forstarbeiter gibt neben den Schmerzen im fehlgestellten blutenden Unterschenkel auch Thoraxschmerzen auf der rechten oberen Seite an. Es krepitiert über der rechten Clavicula und den ersten oberen Rippen. In der Auskultation (schwierig, da laut) seid ihr euch aber ziemlich sicher, dass ihr beidseits ein Atemgeräusch gehört habt. Nach einer geeigneten Analgesie ist die Dyspnoe deutlich geringer. Ein C-Problem scheint er nicht zu haben, aber ihm ist ziemlich kalt. Die Zehen des fehlgestellten Beines kann der Patient bewegen, sie sind zwar kühl, aber ihr könnt Fußpulse tasten. Auch spürt der Patient die Berührung. Da A bis C nun stabil sind, entscheidet ihr euch zunächst die Extremität in der Luftkammerschiene zu stabilisieren. Die aufgeschnittene Hose gibt eine ca. 1 cm Durchspießungswunde am vorderen mittigen Unterschenkel frei mit diversen Schürfungen und Hämatomen. Die Wunden werden kurz mit dem Dokumentationstablet fotografiert und anschließend steril abgedeckt. Da die Analgesie gut wirkt, wird das Bein wieder in ihre physiologische Form gebracht und unter Zug in der Luftkammerschiene gelagert. Anschließend wird erneut pDMS getestet. Während des Transportes ins Traumazentrum zeigt die unterwegs durchgeführte Sonographie einen kleinen Pneumothorax rechts, aber keinen Anhalt auf freie intraabdominelle Flüssigkeit.

Allgemeines:

Offene Frakturen sind relativ häufig und betreffen zumeist männliche Patienten im mittleren Alter. Meistens sind Finger oder die Unterschenkel betroffen. Das große Risiko, welches von offenen Frakturen ausgeht, ist die Infektionsgefahr. Diese ist abhängig vom Ausmaß der Fraktur und des Weichteilschadens sowie den Kontaminationsgrad.

Die Einteilung erfolgt seit fast 50 Jahren nach Gustilo und Anderson. Gustilo und Anderson beschrieben 1976 ihre Behandlung von 1025 offenen Frakturen. Ungefähr 10 Jahre später wurde die Klassifikation erneut überarbeitet. Ziel war es, die Therapie und vor allem auch die Antibiotikatherapie anhand der Klassifikation planen zu können. Dr. Ramon Gustilo feierte 2020 seinen 90. Geburtstag und wenn man dem Internet glauben kann, praktiziert er noch in seinem Krankenhaus in den Philippinen (zumindest könnte man dort einen Termin bei ihm buchen).

Nach der Einteilung haben Grad-I-Frakturen eine die Wunde weniger als 1 cm lang ist, entsprechend einer punktförmigen Durchspießung. Man muss aber immer sagen, dass das auch immer nur das ist, was man sieht. Ein nicht sichtbarer Weichteilschaden kann aber dadurch auch unterschätzt werden. Grad II: 1-10 cm lange Risswunde mit moderatem Weichteilschaden. Grad III wird noch zusätzlich unterteilt.

Grad IIIA: Ausgedehnte Ablösung von Weichteilgewebe vom Knochen, Wunden lassen sich aber decken. Grad IIIB: Deperiostierung, dementsprechend ist eine plastische Deckung mit Lappenplastiken o.ä. im Verlauf nötig. Grad IIIC: Schwere Gefäßverletzungen, diese Patienten weisen Durchblutungsstörungen auf, welche sich auch nach Reposition der Fraktur nicht bessern. Diese sollten in ein Traumazentrum mit vorhandener Gefäßchirurgie gebracht werden.

Infektionsraten bei offenen Frakturen

Typ 1 0-2 % Risiko für eine Infektion

Typ II 2-12 % Risiko für eine Infektion

Typ III 10-50 % Risiko einer Infektion

Therapie:

Rettungsdienst:

In der Präklinik und auch in der Notaufnahme gilt, dass Begleitverletzungen sehr häufig sind und nicht vernachlässigt werden sollten (siehe Fallbeispiel). Man sollte sich von frei liegendem Knochen nicht ablenken lassen und nach Schema (Algorithmusbasiert bei Schwerverletzten nach unterschiedlichen Konzepten z. B. ATLS/ETC/PHTLS/ITLS wie c/xABCDE) arbeiten. Nach dem Ausschluss von lebensgefährlichen Begleitverletzungen kann die betroffene Extremität untersucht werden. Kleidung bitte dafür entfernen. Man schaut nach Zeichen für einen Knochenbruch. Es gibt unsichere Zeichen (Rötung, Schwellung, Schmerzen) und sichere Zeichen (Gelenk, wo keines sein sollte, Krepitation, usw.) Hierbei kann eine Fotodokumentation (unter Wahrung des Datenschutzes) sinnvoll sein. Offene Verletzungen sollten steril abgedeckt werden. Bitte nur grobe Verschmutzung entfernen, Gleiches gilt für die Notaufnahme. Überprüfung von Sensibilität, Motorik und ganz wichtig Durchblutung. Anschließend Reposition unter axialem Längszug und Retention (mit Luftkammerschienen oder whatever). Und erneutes Überprüfen von pDMS. Wenn ein Bein sehr abgeknickt-frakturiert liegt, kann es zum Abknicken („kinking“) der Blutgefäße kommen (vor allem im Knie) und es schlimmstenfalls Extremitätenverlust führen.

Die Wahl des Klinikums sollte differenziert durchgeführt werden. Polytraumatisierung, Gefäßverletzung und ggf. mögliche spätere plastische Deckung sollten hierbei eine Rolle spielen. Wichtig ist es auch, Patienten im Zentrum voranzumelden um dem aufnehmendem Team die Möglichkeit zur Vorbereitung zu geben (OP-Kapazitäten checken, ggfs. Schockraumvorbereitung etc.).

Den Unfallmechanismus zu kennen, ist hierbei sehr hilfreich (High- versus low Energy-Trauma, spitz vs. stumpf, direkt vs. indirekt, kurzes Einwirken vs. Einklemmen/Verschütten)

Notaufnahme:

Hier sollte die Algorithmus-basierte Untersuchung und Therapie fortgeführt werden. Häufiges Öffnen von bereits angelegten Verbänden sollte vermieden werden. Radiologische Diagnosen (konventionelles Röntgen, ggf. CT/CT-Angio) und dann zeitnahe Gabe eines Antibiotikums.

Für die frühzeitige Antibiose gibt es die beste Evidenz, um Infektionen zu verhindern. Bezüglich der kalkulierten Antibiose kann ich jedem den Artikel Omar et al. (Der Unfallchirurg, 08/21) nahelegen. Nach Klassifikation der offenen Fraktur bekommen Grad I-II-Patient*innen entweder 2 g Cefazolin oder 1,5 g Cefuroxim i. v. über 24 Stunden (Cephalosporin 3. Generation) nach Wundverschluss. Man geht hier vor allem von einem grampositivem Spektrum aus.

Liegt jedoch eine Grad-III-Verletzung vor oder jemand hat sich bei landwirtschaftlichen Arbeiten oder bei Arbeiten mit Abwasser verletzt, besteht eine höhere Gefahr noch zusätzliche Kontamination mit gramnegativen Keimem zu erleiden. Dann sollte daher Piperacillin/Tazobactam 3 x 4,5 g oder Ampicillin/Sulbactam 3 x 3 g für 72 Stunden fortgeführt werden. Bei landwirtschaftlichen Verletzungen (Bauernhof/Kuhstall) und hoher Gefahr für. Fäkalkeime/Clostridien sollten Patient*innen zusätzlich Penicillin G 4 x 4 Mio Einheiten i. v. erhalten.

Alternativ kann bei Penicillin/Cephalosporinallergie Clindamycin gegeben werden. Allergien bitte, wie immer, kritisch hinterfragen.

Tetanusimmunisierung ist essenziell und sollte nach den aktuellen Guidelines der STIKO/RKI erfolgen.

Chirurgische Versorgung (nur mal angerissen):

Die Weiterbehandler sollten Überlegungen anstellen, ob die Fraktur primär ausbehandelt werden sollte oder zunächst Damage Control (z. B. bei Polytraumatisierten) zu Tragen kommt. Zunächst Anlage eines Fixateur externe oder gleich Nagelosteosynthese (ggf. Antibiotika-beschichtet)?

OP-Zeitpunkt: Je höhergradig desto früher (pro Stunde 3 % höhere Infektionsraten bei Grad III-Verletzung). Es gibt jedoch keine Evidenz für häufig zitierte 6-Stunden-Regelung.

Entnahme von mikrobiellen Proben aus der Tiefe sind zu empfehlen (auch bei wiederholten Eingriffen, „Keimshift“ möglich).

Wichtig ist vor allem die Lavage (je höher der Verletzungsgrad, desto mehr Spülung) und das Debridement (radikal, alles was avital ist, wird entfernt).

Jet-Lavage wird kontrovers diskutiert (Keimverschleppung in tiefere Schichten möglich), 3-9 Liter Kochsalzlösung und sterile Bürsten empfohlen (keine Evidenz).

Wichtig ist auch ein Kompartmentsyndrom schnell zu erkennen. Dieses kann auch bei großem offenen Weichteilschaden entstehen, im Zweifel wird eine Fasziotomie durchgeführt (je mehr Weichteilschaden, desto mehr Ödem und Schwellung).

Frakturstabilisation, Revaskularisation, wenn nötig (ggf. vorher Fixateur-Anlage zum Schutz des Bypasses/Interponates/Direkter Naht), ggf. Gegenseite mit Abwaschen, um Veneninterponat zu entnehmen.

Möglichst ohne Blutsperre arbeiten um Durchblutung des Gewebes gut beurteilen zu können.

Wundverschluss, ggf. plastische Deckung (möglichst innerhalb 5-7 Tagen), temporäre Deckung mit VAC-Verband oder Epigard®, ggf. serielle Debridements.

Punchlines:

  • Achtung Begleitverletzungen beachten und geeignetes Krankenhaus wählen.
  • Präklinisch: Fotodokumentation, steriles Abdecken und Reponieren.
  • Notaufnahme: Schockraummanagement falls nötig, schnellstmögliche Antibiose, Tetanusschutz eruieren
  • OP: Möglichst frühzeitig, Verfahren je nach Klassifikation und von multiplen Faktoren abhängig daher individuelle Lösungsfindung nötig

Referenzen:

Omar, M., Zeckey, C., Krettek, C., & Graulich, T. (2021). Offene Frakturen. Der Unfallchirurg, 124(8), 651–665. doi:10.1007/s00113-021-01042-2 

Konrad Kamin, Dmitry Notov, Onays Al-Sadi, Christian Kleber, Florian Bönke, Adrian Dragu, Klaus-Dieter Schaser, Offene Verletzungen und Frakturen – Notfallbehandlung und definitive Versorgung OP-Journal 2021; 37(03): 238-251 DOI: 10.1055/a-1588-6995

Trompeter AJ, Knight R, Parsons N, Costa ML. The Orthopaedic Trauma Society classification of open fractures. Bone Joint J. 2020;102-B(11):1469-1474. doi:10.1302/0301-620X.102B11.BJJ-2020-0825.R1

Eccles, Simon and others (eds), ‚NICE Recommendations Relevant to Open Fractures‘, in Simon Eccles and others (eds), Standards for the Management of Open Fractures (Oxford, 2020; online edn, Oxford Academic, 1 Aug. 2020), https://doi.org/10.1093/med/9780198849360.003.0021, accessed 25 Apr. 2023.

Bärtl S, Walter N, Lang S, Hitzenbichler F, Rupp M, Alt V. Antibiotikaeinsatz zu Prophylaxe und empirischer Therapie von frakturassoziierten Infektionen in Deutschland : Eine Umfrage an 44 Kliniken [Antibiotic use for prophylaxis and empirical therapy of fracture-related infections in Germany : A survey of 44 hospitals]. Unfallchirurgie (Heidelb). 2022 Jun 24. German. doi: 10.1007/s00113-022-01200-0. Epub ahead of print. PMID: 35750887.

Orthobullets – Open fracture management Abgerufen am 25.04.2023

Podcasts:

Pharm so hard- Episode 41: Scratch the Gent! Antibiotics for Open Fractures with Rob O’Connell

Bone an Joint Journal Podcast – The Orthopaedic Trauma Society classification of open fractures

Der Artikel dazu.

ThePTN Podcast – Open fractures

RSM Orthopedic Section podcast

Episode 15 Mr. Fergal Monsell: Open Fractures in Kids

Episode 16 Professor Robert O’Toole: FIXIT Study and Management of Open Fractures in the Tibia

OrthoTutorials – Open Fractures

The OTA Podcast – OTA Annual Meeting Selected Papers: Aqueous-PREP

Nailed It – The Orthopaedic Surgery Podcast – Trauma Citation Classics- Open Fractures

Emergency medicine board bombs – Episode 123 Open fractures und Artikel

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